Mit Lichtgeschwindigkeit


"Warum bist Du so unzufrieden? Seit Tagen grübelst Du und redest nicht !"
"Nun ja, so genau weiß ich es nicht, aber da kommen Bilder in mir hoch, die ich schon fast vergessen hatte. Weißt Du, es ist die Sehnsucht nach einer Zeit, in der ich mich geborgen fühlte. Als ich mich noch unbekümmert mit Dingen beschäftigen konnte, ohne dass ich irgendeinem Drängen ausgesetzt war. Das sind Erinnerungen an eine heile Welt, die mich nachdenklich machen. Ein Nachempfinden des Glücks meiner Schulzeit, in der ich einem sehr schönen Hobby nachging, das man heute wohl vergessen hat.

Nach dem großen Krieg, als man stolz war, wieder ganz unbefangen auf die Stimmen aus dem Radio zu hören. Wenn die Sender mit einem Musikabend die Familie zusammenrücken ließen. Wenn wir andächtig lauschten, und was uns wie ein Zauber unglaublich erschien und wir uns erst allmählich damit abfanden, nicht weiter zu fragen, worin denn eigentlich das Geheimnis begründet sein könnte, das hinter diesem technischen Fortschritt steckte. Damals faszinierte mich die drahtlose Übertragung und meine Wissbegier war alsbald kaum noch zu stillen. All' die dicken Bücher über die Entdeckung der Elektrizität, die ja noch viele unbeantwortete Fragen in mir weckten. Die Befassung mit den physikalischen Grundlagen der Elektronenröhren und den so verblüffend einfachen Detektorempfängern füllten mein junges Leben aus. Es war eine eigene Welt des Experimentierens und der stillen Begeisterung für eine Sache, für die nur wenige Verständnis hatten, die mich aber ungeheuer neugierig machte. "

"Guck mal da drüben, da steht "WEB DESIGN" am Auto. Was bedeutet das?"
"Ach, laß mal. Das könnte ich Dir erklären, will jetzt aber nicht ! Neumodischer SchnickSchnack. Ich ziehe mich mal für einige Zeit zurück. Und wenn Du nach mir suchst, findest Du mich in meiner Bastelecke."

Der alte Mann brauchte nicht lange, um die notwendigen Teile für eine kleine Nachbildung zusammenzustellen. Soviel an vermeintlich unbrauchbaren Teilen hatte er über die Jahre gesammelt und sorgfältig aufbewahrt. Dann ging alles ganz schnell. Wie von einem Fieber gepackt baute er die kleine elektrische Schaltung auf und sehnte ungeduldig den Augenblick der Inbetriebnahme herbei. "Das wird mir kaum jemand glauben," sinnierte er. "Und falls alles fehlerfrei funktioniert, werde ich den jungen Leuten einmal vorführen, welche tollen Leistungen wir schon damals mit so geringem Aufwand erreichten. Der Klang dieses einfachen Verstärkers wird sie begeistern. Sie werden sich darüber wundern, dass die teure Halbleitertechnik von heute nichts Besseres zu bieten hat."

Seine geschickten Hände kannten noch jeden Handgriff und den Umgang mit dem heißen Lötkolben hatte er nicht verlernt. Alles vollzog sich mit emsigem Schaffen. Dabei empfand er eine wiederentdeckte Freude, wie sie schon lange nicht mehr sein Gemüt erheiterte. Fröhlich pfeifend fügte er die Dinge zusammen. Dann kam der Augenblick der höchsten Anspannung: Mit einem vernehmlichen Klick legte er den Schalter um. Zum ersten Mal floß jetzt der elektrische Strom durch das überschaubare Wirrwarr von bunten Drähten und einem kugeligen Gebilde, das für einen Moment wie eine Glühlampe hell aufleuchtete. Das leise Summen des Netzteils war ihm sehr vertraut. Das geheimnisvolle Glühen hinter dem silbern glänzenden Glas ließ ihn wieder von der Unergründlichkeit des Wunders träumen, ganz wie damals, als er genauso gebannt vor seinem ersten Radio saß und sich den Äther vorstellte, der das tragende Medium der Hochfrequenzwellen sein sollte. Er dachte an Langdrahtantennen, an den Erdungsschalter, den man beim heranziehenden Gewitter rechtzeitig umlegen musste. An den Kopfhörer, der ihn meistens auch akustisch von seiner Umgebung isolierte. An das angestrengte Lauschen nach einem Ton, einer Stimme, die von einem weit entfernten Sender ausging. Dieses schummrige Leuchten aus dem Inneren der Vakuumröhre faszinierte ihn immer noch.

"Was wohl die Myriaden von Elektronen bewegt? Wie sie denn so schnell dem Rhythmus der Musik folgen können? Ein Hin und Her zwischen den Steuergittern. Und darinnen war die absolute Leere. Fast wie im Weltraum und kein Luftmolekül würde sich den Elektronen auf ihrem Flug von der Kathode zur Anode in den Weg stellen. Wenn ich doch einmal mit ihnen reisen könnte. Durch alle Hindernisse den Weg finden. Aus der Gluthitze des metallischen Fadens in die Wolke um ihn herum abgetrieben werden. Dann eine ungeheure Beschleunigung erfahren und wieder abrupt gebremst zusammengedrängt werden, um in einem breiten Strom gemeinsam das heiße Anodenblech zu erreichen. Von dort mit Lichtgeschwindigkeit durch den Transformator rotieren, um an den Ursprung zurückzufinden. Ein Kreislauf, fast wie im Leben. Sich für einen kurzen Augenblick wieder an ein Atom binden, bis die Energie mich erneut ins Schwingen bringt und eine unsichtbare Kraft mich durch den Raum treibt. Immer wieder und in wechselnder Richtung, so dass die Spule im Lautsprecher unserem Rhythmus folgen muß. Dann hörte der Mensch auch meine schicksalhaften Zwangsbewegungen als wohlklingende Musik."

"Ob es einen Schöpfer gibt, der den Mechanismus duldet?" philosophierte der für einen Augenblick wieder jung gewordene und legte eine Disk in den nunmehr angeschlossenen Player. Bach: Toccata & Fuge d-moll. Kristallklar kam der Orgelton. Eine nie zuvor gehörte Durchsichtigkeit des Klangs brachte ihn ins Träumen. Ganz wie er es erwartet hatte. Er war stolz auf sein Werk.

"Eigentlich sollte man das Rad zurückdrehen und dort beginnen, wo man den Pfad des tugendhaften Schaffens durch den Wahn der Profitsucht verlassen hatte!" So dachte er, und war sich aber keineswegs sicher, dass man ihn verstehen würde. Und niemand vernahm seine Erkenntnis:
"Für mich war es eine Reise zum Anfang und ein Erlebnis, das mich mit gößter Zufriedenheit in die Gegenwart entlässt. Ich werde davon berichten, selbst wenn man mich für einen weltfremden Spinner halten sollte."